NDW: Die Hessen-Edition
Berlin war cool, Düsseldorf arty – aber in Hessen wurde es laut und frech mit Dialekt. Zwischen Bierzelt und Punkclub: Die Neue Welle bekam hier ihren ganz eigenen Dreh.
Berlin war cool, Düsseldorf arty – aber in Hessen wurde es laut und frech mit Dialekt. Zwischen Bierzelt und Punkclub: Die Neue Welle bekam hier ihren ganz eigenen Dreh.
Der coole Sound der 80s mit News, Wetter und Verkehr aus Hessen. Jetzt hier 80s80s Hessen einschalten.
Ein verrauchter Dienstagabend im Frühjahr 1983, Cooky’s an der Großen Bockenheimer Straße, Frankfurt. Der Tresen klebt, die Luft riecht nach Bier. Auf der Bühne stehen Die Crackers: Gitarren kreischen, der Sänger trägt rote Latzhose, brüllt „Klassenfahrt zum Titisee“ – ein Lied über Alkohol, Busklo und pubertäre Grenzüberschreitungen. Im Publikum grölen Jungbanker neben Punkern.
Genau hier, im Halbdunkel hessischer Clubs, entstand jene wilde, respektlos-freche Variante der NDW, die so gar nicht zum art-schooligen Ruf von Berlin oder zum Kunst-Punk aus Düsseldorf passen wollte: laut, direkt, hemmungslos – und sehr, sehr hessisch.
Während Fehlfarben, DAF (link: /daf-im-rausch-einer-nacht oder Ideal NDW-Geschichte mit kaltem Post-Punk-Gestus schrieben, kokettierte Hessen mit Mundart, Klamauk und Kneipenromantik. Der „Sound of Frankfurt“ war zwar bereits geboren, aber im Schatten der Synth-Studios sorgten ein paar Gitarren-Kapellen dafür, dass Dialekt in die Charts schwappten. Rodgau, Wiesbaden, Offenbach – alles andere als Szene-Zentren, aber Brutstätten einer Musik, die sich wenig um Coolness kümmerte und dafür umso mehr um den nächsten Refrain, der im Festzelt funktionieren musste.
Hier sind vier Frechdachs-Kapellen aus Hessen für euch.
Kaum ein Satz bringt hessischen Lokalpatriotismus so auf den Punkt wie der Refrain ihres 1984er-Hits „Erbarme, die Hesse komme!“ Die Rodgau Monotones, 1977 gegründet, mixten Boogie-Rock mit Bläsern, Blues-Attitüde und einer ordentlichen Portion Fassenachts-Humor. Ihr Markenzeichen: Dialekt, der sich nicht entschuldigt. Songs wie „Volle Lotte“ oder „Ei, gude wie?“ wurden Festzelt-Hymnen – und zeigten, dass Spaß-Rock in den 80ern auch außerhalb von Kölns Karneval funktioniert. Hinter der Krawall-Fassade steckte solides Handwerk: zweistimmige Gitarren, knackige Bläser-Arrangements und Texte, die Alltagsbeobachtungen ins Kneipenepos hoben. Wer über die NDW lachte, musste zugeben: Bei den Rodgau Monotones stehen keine Plastik-Klampfen, sondern echte Röhrenamps auf der Bühne.
Flatsch! entstand 1981 in Wiesbaden/Offenbach und lieferte NDW-taugliche Rock-Songs voller Wortspiele und Slapstick-Videos. Frontmann Gerd Knebel – später die eine Hälfte von Badesalz – schrieb Texte, die Dialekt, Punk-Rotz und Dada verbanden. Musikalisch mischten Flatsch! Funk-Gitarren mit Synth-Spielereien, das Ganze gewürzt mit ironischen Ansagen. In TV-Sendungen wie Formel Eins wirkte ihre Bühnenpräsenz wie ein lauter Zwischenruf gegen allzu glattgebügelte Chart-Acts. Gleichzeitig blieb die Band tief in der Region verwurzelt: Wer Flatsch! live sah, hörte Anekdoten über Autobahn-Raststätten, Metzgereien und hessisches Dosenbier – NDW als Kabarett.
Bereits 1977 veröffentlichten die Frankfurter Strassenjungs ihr Debüt Dauerlutscher, das heute als erste deutschsprachige Punk-LP gilt. Die Band provozierte mit sexualisierten Texten und roughen Riffs. Obwohl sie nie den kommerziellen Durchbruch schafften, legten Strassenjungs das Fundament für hessische Frechdachs-Kultur. Ihr Rotzrock, gepaart mit Slang-Gerede und scharfen Sozialbeobachtungen, machte sie zu Local-Legenden. Als die NDW-Welle 1982 rollte, hatten die Strassenjungs ihren Sound längst gefunden: punkig, simpel, ehrlich. Damit wurden sie zu heimlichen Paten für spätere Spaß-Bands – das Gegenstück zu den intellektuellen Kunst-Punks aus Düsseldorf.
Wenn Rodgau Monotones das Festzelt und Strassenjungs den Punk-Keller repräsentierten, standen Die Crackers irgendwo dazwischen. 1979 in Wiesbaden gestartet, hielten sie NDW-Tempowechsel wie „Niemals Alkohol“ oder „Videokillert“ fest, setzten aber auf hymnische Refrains, die man nach zwei Bier mitgrölen konnte. Ihr größter Hit, „Klassenfahrt zum Titisee“ (1983), erzählt von Saufgelagen auf Schulreisen. Musikalisch vertrauten Die Crackers auf Mitsing-Hooks, Bläser-Riffs und eine Prise Ska. Im Kontrast zu Berliner Coolness war Wiesbaden plötzlich Party-Metropole per Radiowelle.
Was diese vier Acts verbindet, ist die Kombination aus Dialekt, Derbheit und Live-Energie. Hessen war in den 80ern weder kulturelles Abstellgleis noch Avantgarde-Metropole – es war das Bierbank-Ausgabe der NDW. Hier wurde weniger Wert auf modische Synth-Sounds gelegt, sondern auf Publikumsnähe und Punchlines, die jedes Bierzelt versteht. Denn zwischen Chart-Glanz und Kunst-Avantgarde bleibt immer Platz für ein lautes „Erbarme!“